Archive 2021 KubaParis

The Glint of Self-Defeating Prophecies

Location

Online Only

Date

31.01 –27.02.2021

Subheadline

Marcel Hiller: THE GLINT OF SELF-DEFEATING PROPHECIES

Text

Gedelitz, Januar 2021 Ich habe das Berliner Ballungszentrum aus Gründen des Infektionsschutzes und mehr noch aufgrund seiner sozialen Folgen verlassen, um im nahen Wendland der Dinge zu harren. Wenn ich die Aerosole meiner Mitmenschen meiden soll, dann ziehe ich es vor, dieses nicht aus nächster Nähe tun zu müssen. So sitze ich nun am Fenster mit Blick auf Äcker und Wälder und beobachte die Sperlinge, die man in Berlin eher Spatzen nennt. Unzählige von ihnen lassen sich teppichgleich auf dem winterlich verwaisten Gemüsebeet nieder. Plötzlich erheben sie sich wieder, wie auf Kommando, und beleben statt der Fläche einen kahlen Busch. Ich wünschte, ich könnte das verbindende Initial ihres Aufbruchs erkennen. Ein idyllisch gelegenes Bauernhaus in der Landschaft, das mittlerweile mehr von seiner Patina als von Baustoffen zusammengehalten zu werden scheint. Darin ein mit vergilbten Seekarten beklebter Schreibtisch, darauf mein Bildschirm: Ich öffne die Fotos im Anhang der Mail. Es sind die Bilder der Simulation einer Ausstellung im Atelier.

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Ein räumliches Arrangement aus Blitzen, Dingen und ihren offensichtlich bildlichen Kontexten. Mehrere industriell gefertigte, durch die Zeit patinierte Gebrauchsgegenstände, immer wieder von Schnitten einer Flextrennscheibe gezeichnet. Zahlreiche Blickachsen und Detailaufnahmen von Dingen und Relationen. Ein Titel: The Glint of Self-defeating Prophecies. Der Autor: Marcel Hiller. Marcel Hiller hat mit diesen Dokumenten einen Ausstellungs-Sarkophag geschaffen: Die Dokumente weisen kein Zentrum, keine Raumachsen und keinerlei Funktionsspuren auf: keine Türen, keine Heizkörper, keine Fenster und keine Decken und damit auch keine Lampen. Keine Podeste, die Objekte liegen am Boden, lehnen oder hängen an den Wänden. Durch die fragmentierten und teilweise zerschnittenen, patinierten Gebrauchsgegenstände vermittelt sich die Atmosphäre eines day-after und die Betrachtung der Dokumente wird zu einem forensischen Unterfangen. Eine Gasmaske aus Silikonkautschuk aus ehemaligen NVA-Beständen an der Wand und der Größe nach vielleicht zwei Gasmasken für Kinder auf dem Boden, alle ohne die dazugehörigen Atemschutzfilter. Die größere Gasmaske ist nach innen zusammengeschnürt. Die Gasmasken am Boden sind nach außen gestülpt. Zwei „afrikanische Masken“, wie man sie aus den Kolonialwaren-Geschäften vergangener Zeiten oder aus dem Völkermuseum kennt, sind auf der Vorderseite vielfach von Flexschnitten gezeichnet. Eine der Masken hängt mit der Rückseite nach vorne und gibt dadurch über ein Etikett ihre tatsächliche Herkunft preis: „VEB Betrieb Leichtbau in Bernsdorf, 1 Stück Afrikanische Negermaske, 40 Mark“. Zwei zerschlissene Mopedhelme, die so aufgeflext wurden, dass sich aus ihnen nun die Schädelverletzungen assoziieren lassen, vor denen die Helme ihrem Gebrauch nach schützen sollen. Zwei gleich lange Abschnitte von Vierkantrohren am Boden weisen ebenfalls Flexschnitte auf. Die Schnitte sind sehr sauber gesetzt und nachbearbeitet. Die gewölbte Kant-Heck-Scheibe, sowie zwei aufeinander gestapelte, rostige Trittkränze eines Lastwagens IFA W50, der zwischen 1965 und 1990 in der DDR gebaut wurde, liegen am Boden. Der LKW taucht in Teilen und als Ganzes in der 9-teiligen Siebdruckarbeit less skin (sheets 2021), knapp über dem Boden hängend, wieder auf. Sie zeigen Privat- und Pressefotos, Konstruktionszeichnungen, Buchseiten und Erinnerungsbilder von Menschen, wahrscheinlich ebenfalls Bürger der DDR. Drei „Blitzskulpturen“ aus geschweißten Vierkantrohren stehen und lehnen im Raum. Eine von ihnen hebt sich, blau lackiert, hervor. Ihr Linienverlauf assoziiert sich aus den Buchstaben W, E und T, die anderen zwei ergeben sich aus N, E und W und einem in sich zusammengefallenen W. Gegenüber des blauen Blitzes befindet sich eine weitere, fünfteilige Bildtafel und zeigt eben diesen als eine schematische Abfolge von Blickrichtungen auf das Stahlgefüge, umgeben von Abbildungen agrartechnischer Maschinen.

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Walter Benjamin hat die Diskontinuität von Ereignissen und deren Betrachtung, die am Ende zusammen „Geschichte ergeben“, astrologisch beschrieben[1]: Die Metapher der Sterne erhält ihre vollständige Bedeutung mithin erst, wenn man sie auf das Sternbild ausweitet, zu dem sich Sterne dem Auge des irdischen Beobachters – und nur diesem – fügen. Sternbilder sind nicht nur Erscheinungen, deren Sichtbarkeit an den Einbruch der Dunkelheit gebunden ist. Sie sind vor allem eine Anordnung von Phänomenen, die nicht von diesen Phänomenen selbst gestiftet wird, sondern lediglich von dem kontingenten Standort ihres Beobachters. Die Sterne eines Sternbilds sind untereinander gänzlich diskontinuierlich, können aber als Sternbild wahrgenommen und hinsichtlich ihrer Position gemerkt werden. Nur aus diesen Konstellationen kann nach Benjamin im übertragenen Sinne Erkenntnis entstehen. „‚Ich bin Künstler‘ fällt mir viel schwerer zu sagen, als über das eigene Tun zu schweigen,“ sagt Marcel Hiller. Und seine Konstellationen eine „Ausstellung“ zu nennen, ist, als würde man den Sternenhimmel von einer beleuchteten Einkaufspassage aus betrachten. Es ist nicht unbedingt falsch, wenn der Betrachterstandpunkt einer ist, der dieses fordert. Und im Kunstbetrieb ist dieser Code sozusagen eine Betriebserlaubnis. Eine Phänomenologie der Konstellationen Marcel Hillers macht jedoch erst richtig Spaß, wenn sie die Diskontinuität der Phänomene berücksichtigt. Zeitlicher Kontext, Kunst, Institution, Raum, Autor, Material, Handlung, Arrangement, Besucher - all das und noch mehr, sind Koordinaten, von denen aus man eine Erzählung starten könnte. Und hinter jeder einzelnen Koordinate verbirgt sich eine weitere Konstellation. So kann man bei einer „Ausstellung“ enden, es könnte aber auch eine „Baustelle“ oder „Sammlung“ sein - oder eben eine Simulation.

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Während seines Research-Stipendiums an der Jan van Eyck-Akademie in Maastricht hat Marcel Hiller das Künstlerkollektiv „Magicgruppe Kulturobjekt“ gegründet, das zwischen 2010 und 2012 international sehr erfolgreich zahlreiche Ausstellungen produzierte. Der Titel des fluktuierenden Kollektivs verwies zugleich auf einen gemeinsamen Arbeitsbegriff, unter dem die Teilnehmenden Material aus unterschiedlichen Form- und Funktionszusammenhängen als räumliche Erzählung inszenierten. Konzeptionell ersetzte das Verfahren die Idee des „Autoren“ durch die Idee des „Entscheidungsmaterials“. Nach Ende dieser kollektiven Zeit baute Hiller darauf auf, indem er in zahlreichen Installationen die Rolle des Künstlers, Sinn und Bedeutung zu produzieren, hinterfragte. 2012 zeigte er in einer ersten Einzelausstellung in der Kölner Desaga Galerie neben verschweißten Vierkantrohrwinkeln, den Vorläufern der Blitzskulpturen, abgeflexte Vierkantrohrstücke, zerschlagene Neonröhren und Schmauchspuren an den Wänden. Mehr Ablehnung eines abgeschlossenen Objektes ging nicht. Auf einem von ihm 2013 organisierten Symposion im Künstlerhaus Büchsenhausen in Innsbruck analysierte er die Materialität und „kontextuellen Verspannungen“ eines Busbahnhofes in Westfalen. Räume bilden für ihn eine offene Erzählung, „die sich das offen sein permanent, vielleicht auch durch unterschiedliche Augen und das Verhalten von Anderen, erarbeiten muss.“ In diesem Sinne zerlegte er 2014 das Geländer der zentralen Empore und Treppe des Kunstvereins Bremerhaven und fügte dieser Erzählung Fragmente weiterer Gegenstände hinzu. Wie schon zu Zeiten der Magicgruppe wurde deutlich, dass der Materialstatus der Dinge nicht mehr mit dem Signifikantenstatus, den Codes eines Kunstwerkes, zusammenfiel[2]. Ihr Status löste sich vielmehr von ihm ab und beanspruchte ein Eigenleben, das den Betrachtenden herausforderte. Er forcierte das, indem er das Material die Spielräume bestimmen ließ: Mal legte er Wassercontainer-Ballons (junction, DREI gallery, Cologne, 2014), ein anderes Mal Zigarrettenschachteln (WOT NEXT, Schmidt & Handrup Berlin, 2015) als Formationen über den Ausstellungsraum aus. Die Wasserflaschen waren dabei in gewisser Weise ein Nullpunkt jeder Narration, denn es gab keine Differenz mehr zwischen den Objekten. Stattdessen stellte er die Frage nach der Signifikanz der Objekte im architektonisch, wie konzeptionell besetzten Raum.

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Marcel Hiller interessiert sich für die Dinge und ihr Material im Sinne des Gebrauchs. Sie sind für ihn Träger von Relationen und Veränderungspotenzialen. Auch das Arrangement entwickelt er im Sinne eines Übergangs, der sich aus seiner Tätigkeit bei dem Betrachter fortsetzt. Er hinterfragt in seiner Produktion konsequent jede eigene, sich instituierende Praxis und treibt die Objekte über die Grenze ihrer Bestimmung. Produktion, wie auch Betrachtung werden dadurch zu einem offenen Prozess der Codierung. Dieser Prozess entwickelt sich aus drei unterschiedlichen Faktoren des Objektes im Arrangement: Potenzialität, Tendenzialität und Referentialität[3]. Potenzialität als eine Annahme der Dringlichkeit im Objekt. Tendenzialität als dessen Neigung, z.B. sich aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang und Gebrauch lösen zu können. Und Referentialität als sein Vermögen einer Deutbarkeit für den Betrachter. Die Bedeutung ergibt sich dabei aus einer Emergenz in der Betrachtung der Konstellationen Marcel Hillers. Also aus der Möglichkeit der Herausbildung einer neuen Codierung der Objekte in ihrem räumlichen Arrangement, infolge des Zusammenspiels ihrer Bedingungen. Marcel Hiller beschreibt es wie folgt: „Beim Tun/Machen, Kunst machen, geht es für mich eigentlich darum, nicht zu legitimieren oder abzusichern, sondern in eine Situation zu kommen, die aus dem eigenen heraustritt, zu ihm (mir/dem "Betrachter") aber spricht. Mir geht es um eine Kommunikations- oder Legitimationsroutine, die aber so offen bleibt, dass sich das räumliche und visuelle nicht verschließt oder verkapselt.“ Das Material der Vierkantrohre ist prägnant für die Arbeit Marcel Hillers. Mal schweißte er sie zu raumspezifisch hergeleiteten Konstruktionen (gasoline, Van Horbourg/Basel, 2019) mal zu autonomen Objekten, die wie Verweise für materielle Spannungsverhältnisse und Speicher von möglichen Handlungen wirkten (Kommune Brölio, Schmidt & Handrup, Köln, 2016). Der Flexschnitt wurde zunehmend zu einem Duktus: Eine wohl dosierte Portion der persönlichen Expression, sich mit einer gewissen Spontanität aus der Hand in die Objekte einzuschreiben. Marcel Hiller ist biografisch ein „Wendekind“. Mit der Entwicklung seines Verfahrens entstand ein immer stärker werdendes Verlangen, den Tendenzen der Formalisierung in der eigenen Arbeit entgegenzutreten. Er begann die Frage nach der Identität der Dinge mit einem Teil seiner eigenen Identitätskonstruktion zu verbinden. Seit seiner 2019 von Seda Pesen kuratierten Einzelausstellung Less Skin im Frankfurter Projektraum fffriedrich, tauchen Gegenstände aus dem Fundus der DDR auf. Die Wiedervereinigung von BRD und DDR, die lediglich ostdeutsche Biografien brach, produzierte den abgelegten Fundus einer Gesellschaft und ihrer Gegenstände. Die Konstellationen von Marcel Hiller wurden unter der Verwendung dieser Dinge erzählerischer. Aber wieder geht es ihm bei diesen Bedeutungscontainern nicht um eine Festschreibung von Identität. Er möchte eigentlich gar nicht über die DDR sprechen, sondern ihm geht es bei der Akkumulierung der Objekte mit dieser Identität um neue Potentiale für formelle, wie kontextuelle Verspannungen: „Ich bin entspannter gegenüber Kunst und Kulturinstitutionen geworden und habe versucht, weiter zu gehen und mich für die Prozesse zu interessieren, deren Institution sich in die vermeintlich zukunftslose Gestalt unserer Zeitgenossenschaft abgelagert hat. Sie sind für mich räumlicher und zeitlicher Hintergrund, dass die Art und Weise, wie sich etwas im Raum verspannt, beeinflusst. So nützlich, wie, sagen wir, die Gummilippe eines Scheibenwischers.“

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The Glint of Self-Defeating Prophecies (Der Glanz sich selbst zerstörender Prophezeiungen). Auf die Prognose, ein Schiff werde morgen nach der Ausfahrt kentern, kann der Kapitän damit reagieren, dass er sich dem „Entweder-oder“ von Kentern oder Nichtkentern gar nicht stellt, sondern eine dritte Option wählt, nämlich im Hafen liegen bleibt. Die Tatsache, dass veröffentlichte Prognosen auf das prognostizierte Systemverhalten zurückwirken, wird nicht selten als Argument vorgebracht, um die Prognostizierbarkeit solcher Systeme überhaupt für unmöglich zu bezeichnen. „Als ich klein war, hatte ich den Eindruck, dass Wünsche und Vorstellungen nie eintreten oder sich erfüllen, weil sie als solche schon gedacht waren. Das Ereignis, der Impuls oder positive Eindruck kam eigentlich immer als Überraschung und unerwartet hervor,“ sagt Marcel Hiller. In diesem Sinne bleibt er auf gar keinen Fall im Hafen, sondern er macht sich mit sprühendem Ehrgeiz auf die Suche nach einem dritten, nicht prognostizierbaren Weg und sticht in See. Wenn wir mit den Sternbildern denken, warum nicht auch mit den Gravitationskräften, also mit den physikalischen Kräften in der Drehbewegung der Sterne?[4] Zwei entgegengesetzte Spiralkräfte, Produktion und Betrachtung, wirken mit voller Kapazität: die zentrifugale (von innen nach außen) und die zentripetale (von außen nach innen). Am Anfang jeder Ausstellungsplanung ist Marcel Hiller selbst sein eigenes System, das die Institution und ihre Bedingungen, ihre zentripetalen Kräfte, absorbiert, um sich dann selbst unter dem Wirken der Fliehkraft als Produzent dort hinein zu begeben. Der künstlerische ortsspezifische Arbeitsprozess führt zu einer äußeren Vorstellung, einem zentrifugalen Phänomen, das vom Produzenten auf den Betrachter als zentripetales Phänomen übertragen wird. Aus dieser Kraft entsteht das Vermögen, Bedingungen aus verschiedenen Perspektiven neu zu betrachten und damit für das eigene System wiederum zu absorbieren. Notiz zu W E T : Dass aus einem Tropfen nicht nur eine romantisierte Natur wächst, sondern eine komplexe Gesellschaft an Wesen oder Gestalten, die im Schatten unseres Seins Teil einer spezifischen Dynamik sind. Agrarmaschinen sind in der Welt wie kleine spitze Nägel unter den Sohlen unserer Sneaker knirschend. Die Vehikel haben etwas Militärisches, Aggressives oder auch Umständliches oder Unbeholfenes. Sie trennen sich von der akkurat abgesteckten Fläche, besetzt mit ihren geraden Reihen aus Salatköpfen, wirken wie alte Männer oder Frauen mit zu großen Hüten und eine Harke in die Ellenbogenbeuge geklemmt, deren Vorteil zum vorigen Modell sich den Haltern noch nicht zu erschließen scheint. Die Dynamik verweist auf eine Gegenwart des Gleichen im Wechsel der Jahreszeiten. (Marcel Hiller)

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W E T und N E W und ihr Zerfall - Der Übergang der Moderne in die sogenannte Postmoderne ging nach Zygmunt Bauman mit einem Wechsel der Aggregatzustände einher - einer Verflüchtigung der Systeme[5]. Das, was einst fest war, verflüssigte sich nun. Wenn wir das auf die aktuelle Situation übertragen und davon ausgehen, dass alles verflüssigt ist, könnte man die Pandemie dann als eine Schockfrostung betrachten, welche unsere Realität vereist? Die zweite Welle hat Land und Leute mittlerweile zunehmend auseinander getrieben. Die staatlich verordnete Ausgangsbeschränkung hat das öffentliche Leben auf sogenannte Systemrelevanz reduziert. Was jedoch System und was Relevanz haben mag, ist eine Ansichtssache, welche durch die gewählten Volksvertreter für alle verbindlich entschieden wird. Der Widerstand gegen diese Entscheidungen wächst und die empfundenen Realitäten teilen sich. Nie konnte ich besser in Echtzeit, auch im Sinne der Konstellationen Benjamins als Grundlage seines Verständnisses von Geschichtsschreibung, den Wettbewerb der Stimmen zugunsten einer Erzählung verfolgen. Bereits im April 2020 dokumentierte Marcel Hiller mit dem Künstlerkollegen Markus Saile, in Reaktion auf die Pandemie in ihrer ersten Welle und den verordneten Stillstand des Ausstellungsbetriebes, eine Intervention in Bildern. Sie mieteten einen silbernen Transporter mit dem Aufdruck MILES und stellten ihn auf das leere Kölner Messegelände. Markus Saile installierte eine kleine Malerei im Innenraum und zwei Weitere aussen am Transporter. Marcel Hiller befestigte jeweils zwei Gasmaskenüberzüge aus NVA-Beständen über dem linken vorderen Radkasten und über dem rechten Frontscheinwerfer. Der hier vorliegenden Ausstellungs-Sarkophag Marcel Hillers entsteht erneut aus dem Vakuum der Bedingungen der Pandemie. Aber es keimt Hoffnung. Das nochmal beschleunigte Dokument seiner kontinuierlichen Selbstorganisation dem Kunstbetrieb gegenüber, wird zu einem emanzipierten Zeitzeugen der eigenen Begrenzung: zeitlos, ortlos und unter dem Verzicht auf Öffentlichkeit: „Mir geht es darum, mich noch einmal auf andere Weise von instituierenden Prozessen abwenden zu können, mir Zeit dafür zu nehmen, dieses Abwenden einzuüben.“ Zuerst friert es mich beim Anblick der Bilder. Unter dem aktuellen Zeitgeschehen und in meiner selbst gewählten Isolation assoziiere ich aus den Gasmasken nichts anderes als die notwendige Maskenpflicht in übersteigerter Form. Die kleinen Gasmasken am Boden wirken wie ein invasives, dämonisches Kinderlachen. Ein Bisschen wie der Horrorclown Stephen King´scher Art. Die „afrikanischen Masken“ verweisen für mich auf eine Appropriation in kolonialer Geste, wie Edward Said sie am Orientalismus beschreibt[6]. Es sind die blutigen Ursprünge des Kolonialismus, die sich heute noch in der Globalisierung fortschreiben. Die Helme wirken als die Metapher einer Verletzbarkeit im Glauben an deren schützende Funktion. Soweit zu einer Allegorie des Status Quo. Aber Struktur geben diesem Arrangement die Blitze an skulptural gewordenen Konstellationen. Sie verweisen auf eine Mehrdeutigkeit der Anordnung. Die aktuelle Pandemie wirkt vor dem Hintergrund einer bedrückend erscheinenden Weltlage, in der die Zukunft für die kommenden Generationen oft dystopisch verstellt erscheint. Mit Hilfe der Vergangenheit, der Konfrontation mit der abgelegten Identität des vergangenen Systems der DDR, appelliert Marcel Hiller an nicht weniger, als die Möglichkeit der Überwindung der Gegenwart, zugunsten einer unbestimmten Zukunft. Marcel Hiller hat mit dieser Konstellation das eigene Atelier verlassen, dass er in der Vergangenheit immer wieder, vergemeinschaftend und elektrisierend, auf den Ausstellungsraum ausdehnte. Wenn er jedoch zuvor davon ausgegangen ist, dass er als Künstler aufgrund seiner Autonomie ohnehin ins gesellschaftliche Abseits gedrängt worden ist und aus diesem heraus produziert, hat er mit dieser Konstellation die Position eines Realisten eingenommen. Realismus als einen in der Kunst immer wieder aktualisierten Anspruch an die eigene Produktion, ein dynamisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Kräften der eigenen Zeit einzugehen. Es ist ein Akt der individuellen und künstlerischen Emanzipation in die Realität, aus der in der Betrachtung die Möglichkeit der Veränderbarkeit entsteht[7]. Ca.150 Meter entfernt von dem Bauernhaus, in dem ich sitze, zwischen den Orten Gedelitz und Gorleben, befindet sich das Atommüll-Zwischenlager, dass eigentlich mal als Endlager dienen sollte. Das ist seit den Prüfungsergebnissen im letzten Sommer vom Tisch. Die gegen den breiten, jetzt also erfolgreichen Widerstand der Bewohner des Landkreises dort eingelagerten Castor-Behälter warten nun darauf wieder abtransportiert zu werden. Die Ereignisse der vergangenen 40 Jahre um diesen Prozess haben sich in die Identität des Wendlandes fest eingeschrieben. Die gelben Xe der Kampagne, einer Bereitschaft des Widerstandes gegen Atommülltransporte in das Wendland, bleiben als Identität seiner Bewohner in den Vorgärten stehen.   Tim Voss studierte bis 2005 visuelle Kommunikation an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Während seines Studiums war er Teil des Ausstellungskollektivs Hinterconti und war am Aufbau der Galerie der Hochschule beteiligt. Seit seinem Diplom hat er in der künstlerischen Leitung verschiedener Institutionen gearbeitet: Kunstverein Harburger Bahnhof in Hamburg (2006-2009), Kunstraum W139 in Amsterdam (2010-2012), Projektresidenz Künstlerhäuser Worpswede (2013-2017) und Künstlerhaus Wien (2018-2020). Seit dem Sommer 2020 arbeitet er als freier Künstler und Kurator in Berlin. Dieses Ausstellungsprojekt wurde gefördert durch die Kunststiftung NRW.   [1] vgl. Nicolas Pethes, Konstellationen - Erinnerung als Kontinuitätsunterbrechung in Walter Benjamins Theorie von Gedächtnis, Kultur und Geschichte, https://idsl1.phil-fak.uni-koeln.de/ [2] vgl. „Ästhetik des Performativen“, Erika Fischer-Lichte, 2004, edition suhrkamp, S. 29 [3] in Anlehnung an „Der Code des Kapitals“, Katharina Pistor, 2020: Priorität, Beständigkeit und Konvertabilität/Universalität [4] im Dialog mit Hila Cohen-Schneiderman, Chef-Kuratorin am MoBY Museums of Bat Yam/Israel [5] vgl. „Flüchtige Moderne“, Zygmunt Bauman, 2002, edition suhrkamp [6] vgl. Edward Said „Orientalismus“, 1978 [7] vgl. Kerstin Stakemeier, Realismus-Vortrag, Künstlerhäuser Worpswede, 2013